Pünktlich sein heisst, abzuschätzen wie viel der andere zu spät kommt...
Dieser Spruch trifft auf viele Mexikaner zu 100% zu. Und wir sprechen hier nicht nur von Minuten, es können auch Stunden sein.
Das absolut verrückteste Beispiel hatte ich in meinem ersten Jahr hier in Mexiko erlebt. Mein Freund und ich hatten uns mit seinen Cousins, am anderen Ende der Stadt, zum Essen in einem Restaurant, verabredet. Um 15 Uhr hätten wir dort sein sollen. Als wir um 14.30 Uhr noch immer zu Hause waren, wurde ich langsam nervös, denn um die Stadt zu durchqueren braucht man je nach Verkehr mindestens eine Stunde. Auf mein Drängen hin fuhren wir kurz darauf los, machten aber noch einen langen Abstecher in ein Geschäft, einen Halt am Geldautomaten und vorwärts kamen wir im Samstag-Nachmittag-Verkehr auch nicht wirklich.
Um 17 Uhr, also zwei Stunden nach der verabredeten Zeit, trafen wir gleichzeitig mit den Cousins beim Restaurant ein. Und das war definitiv nicht abgesprochen, denn zu keinem Zeitpunkt hatten sie miteinander telefoniert oder sich sonst irgendwie verständigt. Mein Freund sagte mir danach, dass er seine Cousins kenne und sie nie zur verabredeten Zeit am Treffpunkt seien. Er konnte also tatsächlich abschätzen, wie viel seine Cousins zu spät kommen.
Aussicht vom Torre Latinoamericana auf einen kleinen Teil der Stadt. Mexiko City ist riesig!
Das war natürlich ein extremes Beispiel, wie ich es in dieser Form danach nicht mehr erlebt hatte. Aber wenn man zum Beispiel zu einer Hausparty einlädt, treffen die meisten eine Stunde nach der angegebenen Zeit ein. Ich habe sogar mal gehört, dass es zum guten Ton gehört bei Verabredungen eine Viertelstunde zu spät zu kommen. Es wird grundsätzlich nicht so streng nach der Uhr gelebt, wie ich das in der Schweiz erlebt und gelebt hatte. Die öffentlichen Verkehrsmittel scheinen auch einen Fahrplan zu haben, nur hängt dieser nicht aus. Man geht dann einfach zur Haltestelle und wartet bis der Bus oder die Metro kommt.
Das ist die Bushaltestelle in Melaque. Siehst du sie? Da, an der Ecke ;-)
Als ich noch in Zürich arbeitete, ging ich praktisch nie zu früh aus dem Haus. Ich wusste genau wieviele Minuten ich zum Bahnhof brauchte und wie schnell oder wie langsam ich gehen konnte um den Zug gerade noch zu erreichen. Als ich einmal mit meinem Freund in der Schweiz in den Ferien war, machte ich das genau so, bis er schimpfte, was für ein Stress das sei. Ich erklärte ihm, dass wir den Zug verpassen würden wenn wir bummelten und dann lange warten müssten. Die meisten wissen, dass die Züge in der Schweiz im Halbstundentakt fahren, also so lange warten müsste man auch nicht. Ausserdem argumentierte mein Freund, dass man sich in dieser Zeit die Umgebung ansehen oder sich im Kiosk umschauen könnte. Da hatte er natürlich recht. Wenn ich in einem fremden Land bin, fülle ich mir die Wartezeit auch gerne so aus.
Aber ganz weg bringe ich diese Zeitmesserei doch nicht. Das steckt irgendwie in mir, denn wenn ich hier in Mexiko zur Arbeit fahre, mache ich das nämlich immer noch. Oder bei Arzt- oder geschäftlichen Terminen bin ich ein paar Minuten früher da. Und wenn ich alleine zu einem Fest eingeladen werde, wird mir die europäische und die mexikanische Zeit angegeben. Das heisst, die Mexikaner werden zum Beispiel auf 20 Uhr eingeladen und die Schweizer und Deutschen auf 21 Uhr. So treffen alle mehr oder weniger gleichzeitig ein.
Das mache ich übrigens auch so, wenn ich mit meinem Freund zu einer Verabredung gehe. Wir wurden mal von einer meiner deutschen Arbeitskolleginnen zum Abendessen eingeladen. Sie sagte mir, dass die Gäste zwischen 19 und 20 Uhr eintreffen. Also sagte ich meinem Freund wir müssten um 19 Uhr da sein. Was denkt ihr um welche Zeit kamen wir an? Punkt 20 Uhr. Von den Landsleuten meiner neuen Heimat gelernt habe ich aber trotzdem. Wenn ich merke, dass ich zu spät dran bin, nehme ich es gelassen, denn ich weiss, dass ich die einzige bin, die sich daran stört.